Texte und Gedanken

Privilegiert? Mitleidend!

Anmerkungen zur Diskussion um die Rolle der katholischen Kirche in der Corona-Pandemie


(Text als PDF-Datei)

Die Corona-Pandemie hat uns überrollt und überrascht, die Verwundbarkeit unserer Existenz bewusst gemacht und uns alle grundlegend verändert. Weltweit.
Die Ereignisse des Jahres 2020 haben uns zur Einsicht geführt: Ob arm oder reich, medizinisch versorgt in der Champions-League oder eher in der Regional-Liga, professionell oder provinziell gemanagt, gut oder eher schlecht regiert - das Virus trifft und betrifft uns alle! Wir haben gelernt, dass auch ein noch so fürsorgender Staat uns nicht umfassend schützen kann. Nicht vor Krankheiten, nicht vor Schicksalsschlägen, schon gar nicht vor dem Tod. Das Leben bleibt riskant. Eine Antwort: wir könnten jeden Tag mit der Intensität leben, als wäre es unser letzter Tag, und mit dem Staunen und der Freude, als wäre es der erste Schöpfungstag. Ars vivendi et moriendi als Lebenskunst österlicher Menschen ist angesagt für bekennende und anonyme Christen, eigentlich für alle!

Corona hat uns allen eine der wohl intensivsten Fastenzeit-Erfahrung zugemutet: unser aller Gewohnheiten beraubter Alltag fühlte sich erst mal fremd an. Leere statt Fülle. Stille statt Ablenkung. Reduktion statt Optionen. Das Vertraute im Pausen-Modus. Stattdessen: Intensität, Konzentration, Besinnung. Die Wirkmächtigkeit des Unscheinbaren, der Glanz eines schlichten Alltags wurde zum Motor neuer Impulse. Kleine Schritte statt großer Sprünge. Nicht die Macht des Faktischen, sondern die Kraft der Veränderung. Umkehr ist immer möglich.

Corona hat uns allen eine Hoffnung geschenkt: Verbunden bleiben. Nie waren reale und soziale-virtuelle Netzwerke so weltumspannend wie heute. Trotzdem reißen Netze: Arme, vom Schicksal oder durch ungleiche Bedingungen Benachteiligte fallen durch soziale Netze. Staaten und ethnische Gruppen vereinzeln sich in Selbstisolation, Feindseligkeiten und Ego-Trip. Corona hat uns auf das gemeinsame Boot zurückverwiesen, das Papst Franziskus bei seinem außerordentlichen „Urbi et orbi“ auf dem menschenleeren Petersplatz am Freitag vor der Karwoche in „ohrenbetäubender Stille“ beschworen hat. Solidarität und COM-Passion sind Anker, die uns in Verbindung zueinander halten. Wir driften nicht ab, wenn wir im Netzwerk bleiben.

Corona hat uns allen aber auch eine Perspektive gelassen: Das schlichte Eingeständnis, dass wir noch nie so viel Wissen über unser Unwissen hatten, macht bescheiden. Kein Monopol der Wahrheit. Stattdessen: Diskussion und Nachkalibrierung. Die Dispute der Wissenschaft und die Frage, was daraus an politischer Entscheidung erwachsen kann, haben uns offenbart, wie fragil unser Wissen und unsere Einsichten sind. Diskurs und Diskussion gehören zu einer lebendigen Kommunikation und zu unserem Leben einfach dazu.

Nach einem verlängertem Karsamstag und einem wochenlangen Emmaus-Gang anstelle österlicher Hallelujas und pfingstlicher Öffnung von Beschränkungen und Grenzen beschert uns derzeit der November einen weiteren “Teil-Lockdown“: im Bund-Länder-Abkommen vom 28. Oktober 2020 wird eine Reduzierung von 75% unserer persönlichen Kontakte angestrebt, um aktuell die Überforderung der Gesundheitsämter bei der Nachverfolgung von Infektionen zu stoppen und perspektivisch eine Überlastung unserer (intensiv-)medizinischen Kapazitäten abzuwenden. In die politische Entscheidung floss das Grundrecht auf „ungestörte Religionsausübung“ des Grundgesetzes ebenso ein wie eine Abwägung, welche Betriebe und Wirtschaftskreisläufe zur Sicherung der Wertschöpfung und damit zur volkswirtschaftlichen Solidiaritäts - und Entschädigungsleistung für andere Bereiche offenbleiben.

Wo Ostern 2020 Kirchen „wegen Corona geschlossen!“ ans Portal hefteten und auch bei religiös Unmusikalischen und Kirchenfernen eine Litanei von Kopfschütteln bis hin zu Legitimationsanfragen an Religion als systemstabilisierende Kraft hervorriefen, wird im November weiter gebetet und sogar gesungen - mit Maske, Hygienekonzept, Abstand und 20%iger Platz-Auslastung meist luftig-hoher Kirchenschiffe. Eine „Privilegierung“, die gesamtgesellschaftlich eher „böses Blut“ denn positiv-bestärkende Akzeptanz hervorrufe, mutmaßen Einige, die einen „Wertungswiderspruch“ im säkular, post-religiösen Deutschland ausmachen. In Solidarität zu den vielen Nicht-Christen, die derzeit weder im Theater noch im Konzertsaal auftanken und ihre arg strapazierte Psyche ausbalancieren könnten. Auch Eintauchen im Gemeinschafts-Sport, in solitärem Schwimmen, im Fitness-Studio oder ein Restaurantbesuch mit Freunden bleibt uns derzeit als Gegenwelt zur allumfassenden Corona-Belastung versagt. Sollten sich da nicht die Kirchen sich aus ihrer „Ritual-Fixiertheit“ lösen und sich verantwortungsbewusst und solidarisch zeigen im Verzicht? Ein Zeichen setzen und so einen Beitrag zur Pandemie-Bekämpfung leisten?

Symbolische Ebene und Konkretion sind verschmolzen in der Frage nach der Möglichkeit des Besseren: Wem hilft konkret eine Solidarität des Verzichts auf den Dreiklang aus zweckfreier Liturgie, zuversichtlichem Glaubenszeugnis und Lebenshilfe als diakonischer Umsetzung des Evangeliums? Auseinanderdividieren lässt sich das verlustfrei jedenfalls nicht: wo wir nicht als um das Wort und den Altar versammelte Erinnerungsgemeinschaft aus dem Evangelium und den Sakramenten, den Stärkungen, Klärungen und Tröstungen des Heiligen Geistes schöpfen, sind Bestärkung für und Beistand im Leiden für andere buchstäblich haltlos. Wir drohen in den Wellen, die immer wieder über uns hereinbrechen, unterzugehen, mutlos und entkräftet in den Chor der Verzweifelten einzustimmen! Warum sollten wir denn auf die immer wieder in Tradition und Gegenwart beschworenen Tröstungskräfte unseres Glaubens in (zu) gut gemeinter Solidarität verzichten?

Bei der Abwägung, was zur Pandemiebekämpfung nun (noch) zulässig und was (temporär) zu vermeiden ist, geht es ja nicht allein um das bessere Hygienekonzept oder den - nach Meinung der Virologen und Verantwortlichen im Gesundheitswesen - derzeit gar nicht (mehr) zu erbringenden Nachweis, wer sich nun wo angesteckt hat und wo Hotspots lauern. Es geht um Vertrauen! Vertrauen, dass eine wissenschaftlich solide beratene und abwägend diskutierte politische Entscheidung die Güter sorgsam abgewogen hat und Freiheitsrechte mit der Fürsorgepflicht des Staates auf körperliche Unversehrtheit seiner Bürger in Balance zu halten versucht. Und Vertrauen in die Tröstungskräfte der Religion. Als Christen ist es unsere Aufgabe, die „tröstende Kraft der Rede von Gott und der verheißenen Unsterblichkeit gerade an den Widersprüchen unserer geschichtlich-gesellschaftlichen Entwicklung zum Leuchten zu bringen“ (J.B. Metz, Über den Trost, 1974) und sie als Solidargemeinschaft allen anzubieten. Nicht mehr, aber auch bitte nicht weniger! Wenn Gebet und Gesang, Klage und Bitte, Verkündigung und Eucharistie sich mit Stille und Klängen mischen und sich so in unserer Leiderfahrung und Lebenswirklichkeit brechen und spiegeln, wirkt das Ritual ganz ohne jegliche zwangshaften Fixierungen. Dann sind wir und die Vielen, die in diesen Zeiten des Trostes bedürfen, einfach beschenkt! Vielleicht auch privilegiert, aber mit verpflichtenden Konsequenzen: das Geschenkte müssen wir weitergeben, wo immer die „Blüten des Trostes zu kurz entsprossen sind“ (Nelly Sachs).

Unsere Sprache und unser Denken und damit unser Tun und Wirken für den Anderen könnten sich so verändern: ungeschützt vor dem Unvorhersehbaren und unimprägniert gegenüber Widersprüchen zu leben, könnte uns gelassener und angstfreier agieren lassen. Leben mit Corona, durch Corona, nach Corona hoffnungsvoll in Ausschöpfung unserer Möglichkeiten und in neu bewusster und neu entflammter Verantwortung füreinander!

Ansgar Wallenhorst, November 2020