Organistival


Sonntag, 14. Juni 2009 , 20 Uhr

Die Leipziger Orgelschule

an der Seifert-Orgel: Prof. Stefan Engels (Leipzig)


Programm:


Max Reger (1873-1916)
Fantasie über den Choral
„Straf’ mich nicht in deinem Zorn“ Op. 40/2 (1899)


Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847)
Fuge B-Dur (1845)
Andante D-Dur (1844)
Allegro d-Moll (1844)


Johann Sebastian Bach (1685-1750)
Concerto C-Dur BWV 594
Bearbeitung des Concerto D-Dur ‘Grosso Mogul’ für Violine, Streicher und Basso continuo von Antonio Vivaldi
1. (ohne Bezeichnung)
2. Recitativo (Adagio)
3. Allegro


Sigfrid Karg-Elert (1877-1933)
Symphonischer Choral
„Jesu, meine Freude“ op. 87/2 (1911)
I. Introduzione (Inferno)
II. Canzone
III. Fuga con Corale


Kurze Programmerläuterungen

Die zu Unrecht weniger bekannte Choralfantasie Straf mich nicht in deinem Zorn wurde 1899 in Weiden komponiert und besitzt interessanterweise keine Fuge. In den sechs von Reger bearbeiteten Strophen (das Lied hat insgesamt 7 Strophen) folgt er dem Ausdruck des Textes in vorbildlicher Weise. Dies führt zu einer kompositorischen Vielfalt hinsichtlich Tempo, Atmosphäre und Beschaffenheit des Satzes. Das zu Beginn erklingende Akkordmotiv mit der chromatisch absteigenden Basslinie steht textbezogen für Angst, Not, oder Reue und erhält im Verlauf des Stückes vereinzelt Überbrückungsfunktion zwischen den Strophen. Die improvisatorische Eröffnung mündet in eine fünf- bis sechsstimmige Harmonisierung des Chorals. Die zweite Strophe erzeugt einen herben Kontrast mit der Fragestellung: „Herr, wer denkt im Tode dein? Wer dankt in der Höllen?“ In der vierten Strophe (die dritte lässt Reger aus) befindet sich die Melodie in der Tenorstimme und in der fünften Strophe verziert Reger die sich in der Sopranstimme befindende Melodie reichlich. Die sechste Strophe beginnt befehlsartig mit den Worten: „Weicht, ihr Feinde, weicht von mir.“ Schlagartig schlägt die Stimmung um: „Gott erhört mein Beten.“ Zur Melodie der siebten Strophe („Vater, dir sei ewig Preis, hier und auch dort oben.“) addiert Reger eine Reihe von Zwischenspielen. Eine überschwängliche Coda führt zum einem letzten (textlosen) Choralzitat.

Die heute Abend erklingenden Kompositionen von Mendelssohn demonstrieren die Experimentierfreudigkeit des Komponisten. Diese Werke sind ursprünglich als Einzelkompositionen und ohne formalen oder inhaltlichen Kontext entstanden. Die Fuge B-Dur zählt mit zu den letzten Orgelwerken Mendelssohns. Sie fand nach eingreifender Veränderung als Schlusssatz Eingang in die Sonate op. 65 Nr. 4. Das Andante D-Dur bildet eine Variationenfolge über ein sechzehntaktiges Thema. Im Allegro d-Moll versucht Mendelssohn, verschiedene Gestaltungsformen miteinander zu kombinieren. Der virtuose Eröffnungsteil mündet in einen Choral, welcher dann unmittelbar in die abschließende Fuge überleitet.

Unter den von Bach bearbeiteten Concerti für Orgel nimmt das heute Abend erklingende Concerto C-Dur BWV 594 eine Ausnahmestellung ein. Die sehr stark auskomponierten Kadenzen der Ecksätze sind einzigartig in Bachs Orgelschaffen. Vor allem im 3. Satz verleiht Bach mit den typischen Violinfigurationen der Idiomatik des Tasteninstruments eine ungewöhnliche Klangsprache. Besonderes Interesse schenkt der Komponist auch dem 2. Satz: Die frei schwebende, stark verzierte Oberstimme des Recitativo erinnert an die Kolorierung eines Cantus firmus.

Siegfried Theodor Karg wurde am 21. November 1877 in Oberndorf am Neckar geboren. 1883 übersiedelte die Familie nach Leipzig, wo der junge Siegfried die ersten musikalischen Anregungen und Unterricht bekam. In Leipzig begegnete er nach eigenen Aussagen dem norwegischen Komponisten Edvard Grieg, dessen Musik ihn zunächst stark beeinflusst hat. Erst durch den Gewandhausorganisten Paul Homeyer wurde Karg-Elert zur Orgelkomposition angeregt und angeleitet. Zunächst übertrug er eigene Werke auf die Orgel bis mit den 66 Choral-Improvisationen op. 65 das erste eigentliche Orgelwerk (zugleich eine der umfangreichsten und bedeutendsten Sammlungen von Choralbearbeitungen) erschien. Nach der Kriegsteilnahme in der Regimentskapelle wurde Karg-Elert 1919 Lehrer, später Professor für Theorie und Komposition am Leipziger Konservatorium in der Nachfolge Max Regers.

Zum Verständnis von Leben und Werk Karg-Elerts ist das Wissen um sein temperamentvolles Wesen und um seine unkonventionelle Lebens- und Ausdrucksweise unverzichtbar. Neben einigen eindrucksvollen zeitgenössischen Beschreibungen, vermitteln seine eigenen Briefe oft den besten Eindruck von dieser fantasievollen Persönlichkeit. Anlässlich der Einladung zum erwähnten Orgelfestival in London schrieb er an seinen Freund Godfrey Sceats in Sorge um seine zu geringen Englisch-Kenntnisse: “Man male sich einmal dieses Bild aus: Sigfrid gestikuliert wie ein Taubstummer, Sigfrid, der immer leidenschaftlich und temperamentvoll redet, philosophiert und doziert ist das Maul zugeklebt, und macht er die Zähne auseinander, so hat er immer und immer nur die eine Sequenz auf dem Leierkasten ‚I can‘t, I don’t know, I don’t understand, I’am a gigantic camel‘ (...) Ihr sollt doch alle einen direkten Anteil von meinem Ich haben, sonst genügte es ja, eine Wachspuppe, der ich meine Hosen anziehe und meinen Hut aufsetze und die das Maul auf- und zuklappt wie ein Krokodil, sonst aber keinen Ton von sich gibt, nach London zu schicken. Man sagt allgemein, daß ich eine prononcierte, spezifische Art habe, mich bildhaft und unkonventionell auszudrücken. (...) Ich lese soeben in einem bedeutenden Werk über England, welche kolossale Rolle bei euch Engländern die strenge Einhaltung der Formalitäten und Gebräuche spielt. Du lieber Gott (...) Wie werde ich mich dort maskieren müssen (...) Eins aber sage ich Dir, von meinen Kragen, Schlipsen und Sammetjacket, wie ich sie mein ganzes Leben trage, lasse ich für den inoffiziellen Privatverkehr nicht. (...) Ich habe eine Idiosynkrasie gegen alle hochoffiziellen und steifen Formen.” Und die drohende Seekrankheit bei der Überfahrt gedachte er so zu kompensieren: “Ich sehe mich schon im Geiste eine kakophone Impression seasickness für Sopran-Saxophon, Englisch-Horn, Windmaschine und Gießkanne komponieren.”

Der symphonische Choral „Jesu, meine Freude“ könnte als eine dreisätzige Orgelsymphonie betrachtet werden. 1926 charakterisiert Karg-Elert das Werk rückblickend wie folgt: „1. Satz: Inferno-Vision (Angst, Qual, Reue, leidvollstes Verlangen). 2. Satz, Canzone: Du bist mein Ergötzen (in reichromantischem Barockstil, wie die Baumeister des Mittelalters die Jesusverherrlichung in zartestem Arabesken- und Zierstil ausdrückten). 3. Satz: Fuge (Durchdringung aus der Nacht des Daseins zum Lichte der einzig-wahren Erkenntnis: Jesu, meine Freude). Kombination der Fuge mit dem Choral und am Schluss: Choral homophon, alle Unruhe, Hast und aller Kleinkram ist abgestreift, einfach-schlicht und doch lapidar steht in Überlebensgröße vor uns: Jesu, meine Freude (C-Dur)“.

Biografie Stefan Engels

Stefan Engels’ Lehr- und Konzerttätigkeit erstreckt sich über Europa, Nordamerika und Südkorea. Konzertengagements führen ihn zu bedeutenden Konzertstätten, wie z. B. Smetana Hall Prag, St. Paul’s Cathedral London, King’s College Cambridge, Victoria Hall Genf, Berliner Philharmonie, Gewandhaus Leipzig, Torch Center Seoul, Augustinerkirche Wien, Kathedrale zu Chartres, Hallgrimskirkja Reykjavik, Kathedrale zu Sydney und Harvard University. Mit dem Gewinn der Goldmedaille beim Calgary International Organ Competition 1998 in Kanada erzielte Stefan Engels seinen internationalen Durchbruch. Seitdem gehört er als einziger deutscher Konzertorganist der führenden nordamerikanischen Konzertagentur für Konzertorganisten Karen McFarlane Artists Inc. an. Nebst diversen CD Einspielungen bei Naxos und Priory mit Werken von Karg-Elert, Reger, Messiaen und Dupré, begann Stefan Engels vor einigen Jahren mit der Weltersteinspielung des Gesamtwerkes für Orgel von Sigfrid Karg-Elert. Die bereits erschienenen CDs dieses Projektes erzielten ein überwältigendes Echo in der internationalen Fachpresse. Nach Studien an den Hochschulen in Aachen (B-Examen), Düsseldorf (A-Examen und Konzertexamen Orgel) und Köln (Aufbaustudium Chorleitung), rundete Stefan Engels seine Ausbildung mit postgradualen Studien an der Southern Methodist University in Dallas (Artist Diploma in Orgel) und der Northwestern University (Doctor of Musical Arts Studium in Orgel) in Chicago ab. Von 1995 bis 1997 war Stefan Engels Universitätsorganist der Northwestern Universität in Chicago und von 1997 bis 1999 Organist an der Fourth Presbyterian Church, ebenfalls in Chicago. Von 1999 bis 2005 war er Professor für künstlerisches Orgelspiel am Westminster Choir College in Princeton (USA) und Institutsleiter der dortigen Orgelabteilung. 2005 folgte Stefan Engels einem Ruf als Professor für künstlerisches Orgelspiel an die Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ in Leipzig. 2006 wurde er zum Künstlerischen Leiter des weltweit höchst dotierten Orgelwettbewerbs, dem Jordan International Organ Competition, in Columbus, Georgia (USA), berufen. Er ist Initiator und künstlerischer Leiter der in diesem Jahr zum zweiten Mal in Leipzig stattfindenden Europäischen Orgelakademie und der Leipziger Karg-Elert Festtage, welche der Renaissance des Leipziger Komponisten und Hochschullehrers Sigfrid Karg-Elert dienen. Bei nationalen und internationalen Wettbewerben ist Stefan Engels ein gefragter Juror.


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