Texte und Gedanken

Der Leonardo der Orgel - Zum Tod von Jean Guillou (1930-2019)

Notre Dame Paris
Ansgar Wallenhorst beim Meisterkurs in Zürich 2000

Wer Jean Guillou begegnete, spürte unmittelbar seine Passion. Es war nicht jene Leidenschaft für ein begrenztes Fachgebiet wie wir es von so manchem Spezialisten kennen und bewundern. Es war nicht eine Leidenschaft, die sich nährt aus der Reduktion, die Anderes ausblendet, wie wir sie mit der Tendenz zu Fanatismus aus vielen beängstigenden gesellschaftlichen, politischen und religiösen Kontexten kennen. Seine Passion war entgrenzend!
Jean Guillou war ein Universalgelehrter alten Schlages. Er war in allen künstlerischen Disziplinen, der Literatur, dem Theater, der Malerei, der Architektur gleichermaßen zu Hause. Deshalb war jede Begegnung mit ihm spannend und lies einen bereichert und verändert zurück. Indem er Gegensätzliches zusammenführte, verschob er Grenzen. Seine Passion war subtil, fragil, zart - unimprägniert gegenüber Widersprüchen. Das machte ihn verletzlich.

Der Interpret Jean Guillou erschloss uns neue Zugänge zum allzu Vertrauten. Alle dogmatisch sich gebenden Interpretationsansätze waren ihm zuwider. Zu oft hatte sich in seinem Leben das gewandelt, was als orthodox galt. Wenn er überraschte und manchen verblüffte, war es aber nicht zwanghafte Attitude, es ganz anders machen zu wollen, sondern tiefster Ausdruck seiner Freiheit des Denkens. Für Jean Guillou gab es keine Verpflichtung auf Prinzipien, sondern nur die Dialektik von Freiheit und Kontrolle. Diese verkörperte sein Spiel in einer schwindelerregenden Balance: jegliche Tradition überbietend, ohne ihr untreu zu sein, frei im Nach-Denken musikalischer Ideen, ihrer Formwerdung und ihres Ausdrucks. Wer ihn als Lehrer erleben durfte, wurde reich beschenkt: nicht mit Antworten, sondern mit neuen Fragen an die Musik - und an sich selbst! Er sah sich nicht als Testamentsvollstrecker des Komponisten, sondern als Inspirator für ein tieferes sich Anschmiegen an den musikalischen Text und seine Botschaft.

Notre Dame Paris
après-concert mit Dorothea Hütte 2007 im Kantorenhaus Ratingen

Der Komponist Jean Guillou schenkte uns ein Oeuvre, in dem die Farbe zum Thema selbst wurde. Sein mal aphoristischer, mal romanhaft erzählender Stil spiegelte in seiner brüchigen Gestalt unsere Lebenswirklichkeit. Zugleich stattete er jedes Werk mit einer positiven Energie aus, die uns hilft, vital und flexibel zu bleiben.
Wie in seinen Improvisationen entsteht das Thema oftmals aus motivischen Gesten, die sich zu einer Physiognomie zusammenfügen und dann einer Verwandlung unterzogen werden. Die von seinem Lehrer Marcel Dupré unterrichteten klassischen Formen und kontrapunktischen Techniken, die er alle verinnerlicht hatte und par excellence beherrschte, wandelten sich in seinen Improvisationen zu einem Gewebe irisierender Intensität. Im Improvisationsunterricht insistierte er auf absolute Kontrolle und einen transparenten Diskurs, wo ein Gedanke den anderen, eine Variation die nächste und ein Klang den neuen ruft.

Und schließlich die Orgel, um die sein Leben kreiste wie Ikarus der Sonne entgegen. Das wilde Tier, als das der junge Jean Guillou in Angers die Orgel von Saint-Serge empfand, blieb emblematisch für seinen Zugang zur Orgel als personales Wesen. Seine Leitmotiv als Organologe und Ideengeber für neue Instrumente war die Orgel als Stimmenensemble: nicht anonyme Masse von Klängen, sondern Persönlichkeiten sollten die Stimmen der Orgel sein und sich dennoch wie gute Solisten verbinden zu einem Gesamtklang. In seiner Vision einer Orgel mit variabler Struktur verbindet sich diese Ästhetik mit seinem Anliegen, die Orgel nicht der Kirche zu überlassen, sondern sie herauszuführen auf Marktplätze und Arenen. Auch im Orgelbau tastete Jean Guillou Grenzen ab und verschob sie. Nur so vollzieht sich Entwicklung…

Notre Dame Paris
aus dem Gästebuch

Was bleibt sind nicht nur prägende Erinnerungen an einen feinsinnigen Künstler aus zahlreichen Begegnungen in Paris, Zürich, Amsterdam, bei Konzerten in aller Welt und seinen Besuchen in Ratingen. Vielmehr ist uns sein Leben Verpflichtung, das Fluidum der Bewegung zu erhalten und dem Visionären nicht die Flügel zu stutzen….

Am vergangenen Samstag starb MaÎtre Guillou im Alter von 88 Jahren in Paris. Mit ihm verlieren wir eine herausragende Künstlerpersönlichkeit, einen bis zu seinem Tod kreativen Geist, der uns inspiriert, beflügelt und provoziert hat. Mögen dem Leonardo der Orgel nun die Flügel des Ikarus ewiges Leben verleihen!
Am kommenden Dienstag werden wir seiner in der Pariser Kathedrale Notre-Dame gedenken.

Ansgar Wallenhorst, Februar 2019

Jean Guillou spricht beim orgelFORUM

Youtube Teil 1
Youtube Teil 2