Texte und Gedanken

Adieu, Pierre! - in memoriam Pierre Pincemaille (1956-2018)

Mein und unser Freund Pierre Pincemaille ist am vergangenen Freitag in Paris gestorben. Seine Familie, seine Freunde und Anhänger rund um den Globus sind in ihrer Trauer um diesen einzigartigen Menschen und charismatischen Musiker vereint. Pierre wurde 61 Jahre alt und starb doch reich an Leben in seiner ganzen irdischen Fülle.

Unvergleichlich und unvergesslich sind die Momente reinen Glücks, die er uns als begnadeter Improvisator geschenkt hat, der sich auch als Interpret immer wieder zu neuen Ufern des Repertoires aufmachte und an den Meilensteinen der Tradition sich inspirierte und Maß nahm. Jeder Ton war beseelt von einem unglaublichen Gestaltungswillen und einer Leidenschaft für das Schöne. Seine tiefe Begeisterung für die Kunst des legendären Pierre Cochereau, der wie ein musikalischer Vater für ihn war, hat er mit seinem Talent und seiner profunden musikalischen Profession verbunden. Pierre sah sich in erster Linie als Musiker und nicht als Organist! Zu suspekt war ihm so manche Skurilität der Orgelszene… Er war stolz darauf, Professor für Kontrapunkt zu sein. Im Innenleben der musikalischen Konstruktion war er zuhause. Von diesem Glutkern aus entwickelte er seine eigene Sprache als Improvisator in Fortsetzung der großen französischen Tradition eines Franck, Tournemire, Vierne und Cochereau.
Die auch von ihm favorisierten Formen waren die Variation und die Symphonie. Konnte er in der Miniaturform der Variations sur un thème donné sein Genie der Ausleuchtung eines Themas in allen Facetten und raffinierten Registrierungen ausleben, so zeigte sich in der Symphonie das strenge Erbe Beethovens und Viernes in großformaler Logik und bezwingender, weil klarer (!) Architektur. Wie bei seinem Idol Pierre Cochereau folgte der Kanon der pittoresken Variationen meist einem festen Ritual: man wartete gespannt, wann sich der sanfte Strom der Flûtes – mais tous les Flûtes harmoniques! – ergießen würde und wann die Chamaden um die Ecke kommen würden beim kraftstrotzenden Jeux d‘anches…
Aber wie im liturgischen Ritual schafft die Verbindung aus geronnener Erfahrung und Aktualität des Jetzt das alles entscheidende und verwandelnde Moment: die Zeit scheint still zu stehen und es entsteht das nie Dagewesene und Unerwartete im Zusammenwirken von Vertrautem und Fremden.
In der Symphonie improvisée lehrte Pierre uns immer wieder neu das Staunen, wenn er aus dem Antagonismus zweier Charaktere einen ganzer Roman aus dem Augenblick erschuf, mit allem was das Leben ausmacht. Die Religion des Themas - wie sie Louis Vierne proklamiert hat - und die Klarheit des Diskurses ließen Meisterwerke der Augenblickskunst entstehen. Ganz im Ravelschen Sinne war für Pierre als Hüter und Testamentvollstrecker der großen französischen Tradition die Untreue zum Original, der vielleicht unbeabsichtigte Webfehler der Kopie, das Einfallstor des Kreativen im schöpferischen Prozess.

Unvergleichlich und unvergesslich war die Präsenz von Pierre. Vom ersten Moment des mit quietschenden Reifen vorfahrenden Liebhabers schneller Autos bis zum warmherzigen Abschied: Pierre war leidenschaftlich präsent ohne Abschweifungen, meist mit Zigarette und in Bewegung. Dabei wirkte diese Unruhe nicht zerstreuend oder abschweifend, sondern geradezu als Prélude zu dem, was einen später musikalisch oder im gedanklichen Austausch erwartete: seine Diktion war klar, wenn er in angenehm dozierendem Tonfall seine Standpunkte vertrat oder seinen weiten kulturellen und geschichtlichen Horizont entfaltete. Immerzu leidenschaftlich und spannend.

Unvergleichlich und unvergesslich bleiben die geselligen Abende nach seinen musikalischen Darbietungen. Der geborene Schauspieler, Fan von Spielfilmen der 50er Jahre und Komödiant zog jeden sofort in seinen Bann. Gestärkt durch das obligatorische Steak, das höchsten 10 Sekunden eine heiße Pfanne gesehen haben durfte, beflügelt durch Rotwein und dem ein oder anderen Glas Whisky lief Pierre zur zweiten Hochform des Abends auf. Seine robuste Kondition garantierte auch dann noch elektrisierende Feiern und geistreich-humorvollen Austausch. Notfalls ging es eben auch nach drei Stunden Schlaf dann 8 Stunden hinter dem Steuer weiter an den nächsten Konzertort.

Unvergleichlich und unvergesslich, wenn man Pierre in seiner Kathedrale („Écoute: Cathédrale, pas Basilique! Le basilic est pour la cuisine!“) von Saint-Denis über dem Grab des ersten Bischofs von Paris und vis à vis der französischen Königsgräber erleben durfte. Mein erster Besuch 1986 - Pierre hatte ein angebrochenes Handgelenk und sein Hund trank während der Improvisationen die Weihwasserbecken leer… - war eine Offenbarung: Das Opus 1 von Cavaillé-Coll war betörend in Poesie und Kraft und die Improvisation eines Ricercars klang wie ein bis dato unentdeckter Appendix zu Clavierübung III des Leipziger Kantors. Wenn Pierre die Stufen hochgeeilt und unter den abgeklemmten Rauchmeldern mit Zigarette im Mundwinkel an den Clavieren Platz genommen hatte, vollzog sich jedesmal ein Schauspiel aus Virtuosität und Innigkeit, clownesken Einlagen und gewandtem Vortrag. Dass Pierre als Freund und Verfechter modernster Technik eine nunmehr dreißig Jahre bis zu seinem Tod währende Liäson mit dem schwer spielbaren Prototyp Cavaillé-Colls einging, zeigt, wie sehr sich seine Kunst an Grenzen nicht nur abarbeiten konnte, sondern gerade dort zu Höhenflügen aufschwang. Das ist wahre Kreativität.

Dass wir uns mit ihm aufschwingen durften und reich beschenkt wurden durch diesen charismatischen Menschen, Künstler und Freund, lässt uns zutiefst dankbar, traurig und getröstet zurück. Am Donnerstag wird Pierre Pincemaille auf dem Friedhof vom Tréflez in der Bretagne beigesetzt.
Möge er ruhen in Frieden!

Ansgar Wallenhorst, Januar 2018